Mittwoch, 23. Oktober 2013

Florian Illies - 1913. Der Sommer des Jahrhunderts

Es ist das Jahr 1913. Der Erste Weltkrieg wird bald ausbrechen. 17 Millionen Menschen werden sterben. Die Welt steht an der Schwelle zum ereignisreichen kurzen 20. Jahrhunderts (Eric Hobsbawm). Dieses Jahr bringt uns Florian Illies in seinem Roman mit dem präzisen Titel 1913 näher. Es ist ein Flickenteppich aus Geschichten und Anekdoten geworden. Der Begriff Roman trifft es dabei nicht zwangsläufig. Von Geschichtsdokumentation zur Anreihung ebenso amüsanter wie historisch irrelevanter Gegebenheiten, das zeigt uns Illies, ist es ja dann doch oft nur ein unauffälliger Schritt. Florian Illies will das Jahr 1913  glorifizieren; das gelingt ihm.


Während uns Illies Monat für Monat durch das Jahr führt, fließen Geschichten und Anekdoten mal angenehm geschmeidig ineinander, wenn sich Stalin, Hitler und der spätere jugoslawische Diktator Tito gleichzeitig für kurze Zeit in Wien aufhalten. Und alle drei wirken wie „Statisten, so könnte man meinen, ohne eigenen Text im großen Schauspiel Wien um 1913“.  Ein anderes Mal sind es wieder scharfe Kanten und Kontraste zwischen den einzelnen Charakteren oder Ereignissen, die den Scharm des Buches ausmacht. „Rainer Maria Rilke hat Schnupfen“  und das, während Virginia Woolf vom Schicksal der Frauen in diesem Jahr 1913 schreibt: „Da im Hintergrund spielte es sich also ab, dies seltsame stumme Leben, das niemals zur Darstellung gelangt.“ Die Frau als verstummte und ungehörte Figur und damit ein kleiner Seitenhieb vielleicht auch auf die Sexismusdebatte des Jahres 2013? 

Überhaupt stellt uns das Buch vor zwei diametral verlaufende Wahrnehmungsschemata: Einerseits die absolute Modernität und Zeitlosigkeit, die Lebendigkeit der Protagonisten im Jahr 1913 und andererseits  das Eintauchen in eine völlig andere Welt, in der sich Franz Marc und Wassily Kandinsky zum malen treffen und Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn in zerstörerischer Liebe zueinander entflammen. Dabei stehen diese uns wohlbekannten Namen im grausamen Kontrast zu den Persönlichkeiten, denen unsere Aufmerksamkeit im Jahre 2013 geschenkt wird: Sylvie van der Vaart, Boris Becker oder Lady Gaga. Oswald Sprengler, der 1913 am Untergang des Abendlandes schreibt, hätte den Verfall der Kunst im Jahre 2013 nicht besser darstellen können als Illies in dem er die heutige Realität der Erzählung von 1913 gegenüberstellt. 

Illies hat eine Impression vom Jahr vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen und stanzt damit eine Stimmung in Letter, die uns mit tiefem Bedauern zurücklässt. Denn diese künstlerische Traumwelt, in der man Kafka gerne schüttelnd zur Vernunft bringen mag und mit Picasso und Matisse einen trinken möchte, sollte sehr bald - das wissen wir - durch die Wirklichkeit des Jahres 1914 für immer zerstört sein.

1913 ist eine Ansammlung von Fragmenten, die auch beim Lesen viele kleine splitternde Eindrücke hinterlässt, welche sich dann zu einem überwältigenden Gesamtschauspiel zusammenfügen. Dann schließt man den Buchdeckel und wundert sich, ob man eben auf der Straße nicht zufällig dem Sigmund Freud oder Oskar Kokoschka unserer Zeit begegnet ist...

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